Andrea Rieger-Jandl im Interview

"Eine Architektur ist gut, wenn sie Schutz bietet, wenn sie funktioniert, wenn sie atmet, wenn sie Ruhe schenkt, wenn sie für heute und morgen bestimmt ist und wenn sie vergehen kann."

- Ao. Univ. Prof.in Dipl.-Ing.in Dr.in phil. Andrea Rieger-Jandl, Studiengangsleitung Masterstudium Architektur – Green Building,

Bauen und Gestalten

Woher kommt Ihre Leidenschaft für Architektur?

Ich habe früh eine Leidenschaft für das Reisen entwickelt und dadurch auch eine Faszination für die vielfältigen Manifestationen unserer gebauten Umwelt. Architektur ist für mich mehr als reine Struktur – sie ist ein physisches Abbild der kulturellen und sozialen Identität einer Gesellschaft. Als Architekturwissenschafterin und Anthropologin interessiert mich, was die Architektur über die Lebenswelt der Menschen aussagt, die sie bewohnen. Eine Stadt, ein Dorf, ein Gebäude erzählt etwas über die soziale Lebensrealität und die Geschichte der Bewohner*innen. Gleichzeitig wird der Mensch durch das räumliche Umfeld geprägt.
Ich finde es unglaublich inspirierend, diese architektonischen Landschaften zu entschlüsseln und daraus Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Es ist dieser Dialog zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen dem Menschen und seinem räumlichen Umfeld, der meine Leidenschaft für die Architektur immer wieder neu entfacht.

Was sagt die Architektur in Wien über unsere Lebenswelt aus?

Die Architektur in Wien zeigt, dass wir geprägt sind von Tradition und Geschichte. Man muss nur einmal um die Ringstraße fahren und die Staatsoper, das Burgtheater und die Museen betrachten, um zu wissen, dass Kunst und Kultur bei der Bevölkerung einen hohen Stellenwert haben. Der Wiener Wohnungsbau vom Roten Wien bis heute sagt viel über das Gemeinwesen und die soziale Einstellung aus und die Vielfalt der architektonischen Stile insgesamt beschreiben Wien als eine kosmopolitische, weltoffene Stadt.

Sie haben viele internationale Projekte geleitet. Welche Learnings haben Sie dabei mitgenommen?

Vor allem durch meine zahlreichen Studienaufenthalte in Asien und Afrika habe ich gelernt, dass es eine Vielfalt an Zugängen gibt, wie architektonische Aufgabenstellungen gelöst werden können. Gewisse Werte, die eine gelungene Architektur ausmachen, sind allerdings universell: Eine Architektur ist gut, wenn sie Schutz bietet, wenn sie funktioniert, wenn sie atmet, wenn sie Ruhe schenkt, wenn sie für heute und morgen bestimmt ist und wenn sie vergehen kann. Solche Architektur habe ich meist dort gefunden, wo noch nie ein Architekt/eine Architektin einen Fuß hingesetzt hat. Sie entsteht aus den lokalen Möglichkeiten und Ressourcen heraus und wird meist als zutiefst menschlich wahrgenommen. Es ist die „Muttersprache der Architektur“, die sich auf das Essenzielle, das Notwendige beschränkt. 

Braucht es dann überhaupt Architekt*innen?

Unsere moderne Welt ist viel zu komplex geworden, als dass sie ohne Architekt*innen, ohne spezialisierte Berufsbilder, auskommen könnte. Durch diese Spezialisierung ist uns aber leider auch der Blick für das große Ganze abhandengekommen: Wir leben als gäbe es kein Morgen und wir bauen als gäbe es kein Morgen. Architekt*innen haben eine Mitverantwortung für das Zubetonieren unserer Landschaften und den enormen Ressourcen- und Energieverbrauch unserer Städte. Daher liegt es auch in der Verantwortung der Architekt*innen, innovative Lösungen zu finden, wie wir hier wieder rauskommen.
Als verantwortungsvolle Architekt*in muss ich meine Architektur in den Gesamtkontext stellen und mich bei jeder Bauaufgabe fragen, was ich mit meinen Konzepten zu einer lebenswerten Zukunft für die nächste Generation beitrage. Vor allem im urbanen Maßstab haben Architekt*innen eine hohe technische, gesellschaftliche und gestalterische Verpflichtung. Der sensible Umgang mit dem baukulturellen Erbe gehört hier genauso dazu wie die Entwicklung visionärer Lösungen für eine zukunftsfähige Bauwirtschaft.

Inwiefern kann sich Österreich von der Baukultur in anderen Ländern etwas abschauen?

Im europäischen Vergleich ist Österreich prinzipiell gut aufgestellt. Es gibt ein wachsendes Interesse an der heimischen Baukultur und im Bereich des nachhaltigen Bauens gibt es zahlreiche innovative Ansätze. Aufgrund der Dringlichkeit der CO2-Reduktion wäre allerdings eine Beschleunigung in der Umsetzung durch entschlossenes politisches Handeln und Veränderungen auf der regulativen Ebene notwendig. In Ländern wie Frankreich oder in Skandinavien fallen baulichen Regulative nicht wie bei uns in die Zuständigkeit der Länder, sondern sind zentral gesteuert und ermöglichen eine effizientere Durchsetzung. Auch was den Holzbau anbelangt, sind wir in Österreich sehr gut aufgestellt, könnten aber vom Know-how in Skandinavien und in Japan, gerade was rückbaubare Strukturen anbelangt, profitieren. Was den Lehmbau anbelangt ist Deutschland führend, das bereits ein umfassendes Lehmbau-Normenpaket entwickelt hat – hier gilt es, in Österreich nachzuziehen.

Sie beschäftigen sich und forschen sehr viel mit dem Baustoff Lehm. Was macht Lehm für Sie so interessant?

Lehm ist ein Material, das in seiner Einfachheit und Ursprünglichkeit eine tiefe Symbolik in sich trägt. Lehm als Baumaterial lässt uns Häuser bauen, die direkt aus der Erde erwachsen, ihren Zweck erfüllen und wieder zur Erde zurückkehren – Lehmbauten sind damit der Inbegriff des kreislauffähigen Bauens. Das Wunderbare ist, dass uns Lehm nicht nur quasi in unendlichen Mengen zu Füßen liegt, sondern in den meisten Fällen ist er sogar bereits ausgegraben. In Österreich fallen pro Jahr an die 40 Mio. Tonnen an Aushubmaterial an, ein großer Teil davon ist Lehm, den wir unmittelbar zum Bauen wiederverwenden können. Der Aspekt der Ressourcenschonung, das gesunde und ausgeglichene Raumklima sowie die hohe ästhetische und gestalterische Qualität machen Lehm zu einem Baustoff, der in Zukunft eine zentrale Rolle in der dringend notwendigen ökologischen Bauwende einnehmen wird.

Welches Bauwerk ist in Ihren Augen eines der größten Bausünden und warum?

Heute ist jedes neue Bauwerk, das nicht nach streng ökologischen Richtlinien erbaut wird, eine Bausünde. Warum? Die Bauwirtschaft zeichnet für 40 % der CO2-Emissionen verantwortlich. Aus Verantwortung gegenüber der nächsten Generation können wir es uns nicht leisten, einfach weiterzubauen wie bisher.

Wo legen Sie in der Ausbildung neuer Architekt*innen Ihre Schwerpunkte?

Im Studiengang Architektur – Green Building setzen wir auf innovative Ansätze zur Förderung ökologischer, sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit. Die Kernkompetenz der Architektur, das Entwerfen, umfasst alle Phasen "grüner" Baukonzepte, von der Sanierung über die Standortwahl und flexible Gebäudetypologien, kreislauffähige Materialien und Rückbaubarkeit bis hin zur energie-effizienten Bauphysik und Haustechnik. Die gezielte interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Bauingenieur-Studierenden im Fach „Integrale Planung“ ist dafür eine einzigartige Voraussetzung. Mir ist es wichtig, dass die Studierenden durch Fachkenntnisse in Ökobilanzierung und BIM-Systemen faktenbasierte Entscheidungen treffen, um dem weit verbreiteten Greenwashing in der Baubranche etwas entgegensetzen zu können. Mein persönliches Steckenpferd sind Design|Build-Projekte mit Hands-on-Charakter. Die handwerkliche und haptische Erfahrung mit regenerativen Baustoffen wie Holz, Lehm und Stroh ermöglicht einen unmittelbaren Bezug zum Material. Gleichzeitig fördern solche Projekte die soziale Interaktion und das Teambewusstsein – und machen vor allem Spaß!

Was möchten Sie Absolvent*innen Ihres Studienlehrgangs gerne mitgeben? 

Adäquates Wohnen ist mehr, als ein Dach über dem Kopf – es ist ein Menschenrecht (Univ. Decl. of Human Rights, Article 25/1). Wohnen vermittelt Sicherheit, Geborgenheit und Würde. Die schöne Aufgabe unserer Absolvent*innen ist es, den Menschen zu diesem Recht zu verhelfen.
Die Architektur lukriert ihre `Lebensenergie´ aus dem Entstehungsprozess. Das Verständnis für diese Lebensenergie erfordert Wissen, Intuition, Sensibilität und teils auch ein Loslassen des unentwegten Strebens.
Die Absolventinnen und Absolventen möchte ich auffordern, das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren und die Ursachen zu erkennen, die unsere kapitalistische Gesellschaft in die Klimakrise geführt haben. Wir müssen das Problem an der Wurzel packen und mit Mut, Bestimmtheit und Durchsetzungskraft auch radikale Maßnahmen setzen, um unsere gebaute Umwelt wieder mit der natürlichen Umwelt zu versöhnen.


Wenn Sie drei Wünsche hätten, was würden Sie sich für die österreichische Baubranche wünschen?

  • Nachhaltigkeit als Standard: Ökologische Bauweisen und Materialien dürfen nicht die Ausnahme, sondern müssen die Regel sein.
  • Zirkuläres Denken: Lineares, auf Profitmaximierung ausgerichtetes Denken muss einer konsequent zirkulären Denkweise weichen.
  • Mut zur Innovation: Mut zu visionären Projekten, ohne dabei die eigene Baukultur aus den Augen zu verlieren.