Die Digitalisierung verändert unser Leben. Entscheidend ist dabei nicht mehr, ob wir das wollen, sondern wie unsere digitale Zukunft aussehen wird. Darüber haben wir mit der deutschen Technologie-Unternehmerin und Juristin Yvonne Hofstetter gesprochen. Sie ist Big-Data-Expertin und warnt im Interview davor, dass die Digitalisierung die uns bekannte Welt zerstören wird. Yvonne Hofstetter ist am 23. November 2017 zu Gast bei den Zukunftsgesprächen an der FH Campus Wien.
Ich erkläre Digitalisierung plakativ: Wir verwandeln unseren Globus, unseren Alltag und unsere Umwelt in einen einzigen, gigantischen Megacomputer. Alles und jeder wird vernetzt zum „Internet of Everything“: Menschen, ICE-Sitze, Bahngleise, Ticketautomaten, Autos, Häuser, Straßenlaternen. Personen wie Alltagsgegenstände werden mit Sensoren und IP-Adressen ausgestattet und damit sowohl zum Sender von Daten aus ihrem Leben als auch zum Empfänger von Steuerungsinformation. Denken Sie nur an Ihre Gesundheits-App. Sie misst Ihre Lebensfunktionen und gibt gute Ratschläge: Heute sollten Sie noch 7.000 Schritte gehen.
Die Kräfte der Digitalisierung wirken längst, aber sie sind nicht-stofflich. Zu ihren technologischen Kräften gehören die Überwachung, die Vorhersage, die Optimierung, die Auflösung des Eigentumsbegriffs oder der Zugang zu allem, auch dem, was eigentlich schützenswert oder gefährlich ist: etwa das Wissen für den Atombombenbau oder illegale Stoffe und Güter; auch der menschliche Körper wird inzwischen als Plattform für Software getestet. Alle Kräfte zusammengenommen werden die Gesellschaft im 21. Jahrhundert so verändern, dass sie mit der Gesellschaft, die wir aus dem 20. Jahrhundert mitgebracht haben, nichts mehr gemein haben wird. Dieser Prozess vollzieht sich nicht-linear. Möglicherweise erleben wir in der näheren Zukunft einen gesellschaftlichen Sprung, ausgelöst durch digitale technologische Kräfte. Vielleicht betrachten wir die Digitalisierung dann mit anderen Augen.
Digitalisierung ist eine menschliche Kulturleistung wie die Entdeckung des Feuers oder die erste industrielle Revolution. Sie wird uns in rascher Folge mit steten Neuerungen konfrontieren – eben mit Updates. Beruflich wie privat werden wir uns permanent erneuern müssen. Stabilitas war gestern. Die Fließfähigkeit unseres Lebens wird zum Normalzustand.
Die Digitalisierung überrollt uns mit ihren technischen Möglichkeiten, aber Innovation hat außer der technologischen Dimension noch drei andere Dimensionen: die kulturelle, die doktrinäre und die strukturelle Dimension. Naturgemäß läuft die technologische Dimension der Innovation den anderen voraus: Die anderen kommen nicht nach mit der Folge, dass wir technologische Innovation nicht absorbieren können. Es kommt zum Clash, zum Aufeinanderprallen verschiedener Welten und Konzepte. Ich rechne damit, dass wir dabei einige Kollateralschäden erleben werden, etwa Pleiten von Branchen, die nicht adaptieren können, aber auch umgekehrt: Gute und notwendige technologische Innovationen scheitern an der Inkompatibilität mit der Trägheit unserer europäischen Gesellschaftssysteme. Eine Analogie hierfür ist Deutschland und das e-Auto.
Mit der Vernetzung zum „Internet of Everything“ verschwimmen die Grenzen von Mensch und Maschine endgültig. Aus dem Silicon Valley, dem Treiber der Digitalisierung, hören wir heute Sätze wie: „Der Mensch ist die ultimative Maschine.“ „Der Mensch ist nur ein biologistischer Algorithmus.“ „Die Demokratie ist eine alte Technologie und gehört abgeschafft.“ Eben jene Ideologien begleiten die Produktion digitaler Angebote und Geräte, die wir Europäer, die wir ein ganz anderes Verständnis vom Menschen in Verfassung und Rechtsordnung gegossen haben, nutzen und damit soziologisch legitimieren. Unsere digitalen Lieblingsmarken sind eben nicht neutral, sondern verkörpern die „Werte“ ihrer Hersteller: Disruption, also Zerstörung, Monopol und Überwachung/Steuerung statt Demokratie. Damit werden unsere europäischen Gesellschaften konfrontiert. GoogleAmazonFacebook&Co. haben die Macht, unsere bekannte Welt aus den Angeln zu heben, auch deshalb, weil wir millionenfach Beihilfe leisten.
Künstliche Intelligenz sind Problemlöser mathematischer Aufgabenstellungen und nichts weiter als Funktionsapproximatoren. Ihre klassische Aufgabenstellung: die Kategorisierung. Künstliche Intelligenz kann Objekte des Lebens – auch Personen, die Subjekte – klassifizieren. Man kann durchaus sagen: selektieren. Der Einsatzkontext von Künstlicher Intelligenz im Zusammenhang mit Humandaten ist deshalb ethisch hochgradig bedenklich. Werden Einsatzkontexte von Künstlicher Intelligenz nicht standardisiert und humanisiert, kann diese Technologie in ein Zeitalter der Barbarei führen.
Für alle Technologien gilt: Wenn sie die Werte einer Gesellschaft riskieren oder zerstören, sollten Technologien global mit Sperren versehen werden. Die Welt hat einen Atomwaffensperrvertrag geschlossen und auch den Einsatz von Chemiewaffen geächtet. Die Technologien der digitalen Ära müssen sich an Grundrechten, sozialer Marktwirtschaft und Demokratieformen messen lassen.
Erstens, Bürger sollten sich intellektuell mit der Digitalisierung stärker auseinandersetzen, um sie zu verstehen, statt ihre Angebote ahnungslos zu nutzen. Zweitens, Politik sollte ihrem Auftrag gerecht werden und für Bürgerrechte mehr eintreten als für Wirtschaftsinteressen. Das tut sie nicht, und sie tut es auch deshalb nicht, weil Bürger gutheißen, dass Wirtschaftswachstum allen anderen politischen Zielen vorangestellt ist. Drittens, und das ist meine einzige verbleibende Hoffnung, europäische Technologen sollten sich sensibilisieren und eigenmächtig digitale Systeme und Angebote schaffen, die Bürgerrechte unmittelbar technologisch schützen: Stichwort „ethics by design“. Dazu müssen sich Mathematiker, Informatiker oder Ingenieure bewusst werden, dass sie eine Verantwortung für die gesamtgesellschaftliche Zukunft tragen. Hier bin ich aufgrund meiner zwanzigjährigen Erfahrung mit Technologen aber durchaus optimistisch.
Über die Grenzen der Technik und die Auswirkungen von Digitalisierung und Vernetzung auf uns und unserer Gesellschaft diskutieren im Rahmen der Zukunftsgespräche Yvonne Hofstetter, Technologie-Unternehmerin und Juristin, Manuel Koschuch, IT-Security-Experte an der FH Campus Wien, Heimo Sandtner, Vizerektor für Forschung und Entwicklung an der FH Campus Wien, und Hans Tschürtz, Safety-Experte an der FH Campus Wien.