„Wir müssen radikal umdenken!“

Manuel Dolderer über die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen auf die Bildung.

Technologischer Fortschritt, Digitalisierung, Globalisierung, Wertewandel und demografischer Wandel verändern unsere Gesellschaft grundlegend. Sie entwickelt sich von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft. Welche Auswirkungen und Herausforderungen das für Bildung und Bildungsinstitutionen bedeutet – darüber haben wir mit Manuel Dolderer gesprochen. 


Unsere Gesellschaft steckt in einer Phase tiefgreifender Veränderungen. Technologischer Fortschritt, Digitalisierung, Globalisierung, Wertewandel und demografischer Wandel sind die Treiber dieser Veränderungen. Wissen ist in immer größeren Mengen und dank digitaler Medien immer leichter verfügbar. Und die Gesellschaft entwickelt sich von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft. Welche Auswirkungen das auf die Bildung und die Art und Weise hat, wie wir künftig studieren werden – darüber haben wir mit Manuel Dolderer gesprochen. Er ist Präsident und Mitgründer der CODE University in Berlin und spricht am 16. Mai 2019 bei den Zukunftsgesprächen über seine Vorstellung von Bildung im 21. Jahrhundert.

Welche Rolle spielt Bildung in unserer sich wandelnden Gesellschaft?

Gesamtgesellschaftlich betrachtet gibt es kein wichtigeres Thema! Bildung ist die Grundlage für ein sinnvolles Teilhaben an unserer künftigen Gesellschaft. In Schulen und Hochschulen bereiten wir junge Menschen darauf vor und geben ihnen im besten Fall die Fähigkeiten und die Geisteshaltung mit, die sie brauchen, um ihre Zukunft unter den Bedingungen und mit den Mitteln digitaler Technologien aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig dürfen sich gesellschaftliche Bildungsanstrengungen aber nicht nur auf die jungen Generationen konzentrieren. Bildung ist heute mehr denn je eine Lebensaufgabe. D.h. alle Menschen müssen in die Lage versetzt werden, kontinuierlich weiter zu lernen, um in einer sich ständig verändernden Welt bestehen zu können.

Wie wirkt sich der Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft auf unsere Vorstellung von Bildung aus?

Die Vorstellung, dass Wissen die wichtigste Ressource der postindustriellen Gesellschaft ist, hat uns in eine bildungspolitische Sackgasse geführt. Mit reiner Wissensvermittlung wird es uns nicht gelingen, unseren Schüler*innen und Student*innen die Kompetenzen zu vermitteln, die sie brauchen, um verfügbares Wissen kritisch zu bewerten, neu zu verknüpfen und in kreativen Problemlösungsprozessen kollaborativ einzusetzen. Was wir brauchen, sind Menschen, die die Herausforderungen unserer Gesellschaft verstehen und in der Lage sind, ihr Wissen mit einer unternehmerischen Geisteshaltung für neue Lösungsansätze zu verwenden. Wissen ist dabei ein notwendiger, aber keineswegs hinreichender Bestandteil von Bildung.

Was heißt das konkret für die Gestaltung von Bildung?

Es muss uns gelingen, Bildungseinrichtungen so zu gestalten, dass die Persönlichkeitsbildung der Schüler*innen und Student*innen im Vordergrund steht. Wir müssen auf die Vermittlung von Kompetenzen fokussieren. Das erfordert ein radikales Umdenken und verändert das Selbstverständnis von Lehrenden und Bildungsinstitutionen und die Art und Weise, wie wir Curricula und Lernumgebungen künftig entwickeln und gestalten werden. Solange allerdings Belehrung und Wissensvermittlung im Vordergrund stehen, werden wir es nicht schaffen, Selbstbestimmtheit zu fördern. Auch die Entwicklung von Kernkompetenzen für eine produktive und selbstbestimmte Teilhabe an unserer Gesellschaft und der Arbeitswelt von morgen ermöglichen wir damit nicht. 

Auf welche Kompetenzen wird es in dieser Arbeitswelt von morgen ankommen?

Es braucht neben einem grundlegenden Verständnis für die naturwissenschaftlichen, gesellschaftlichen und philosophischen Zusammenhänge und neben Basiskenntnissen digitaler Technologien vor allem menschliche Kernkompetenzen: Kreativität, kritisches Denken, kommunikative und kollaborative Kompetenzen sowie ein gesundes Maß an Neugier und Unternehmergeist. 

Wie schaffen wir es, junge Menschen darauf bestmöglich vorzubereiten? 

Zunächst indem wir akzeptieren, dass wir nicht mehr kleinteilig vorhersagen können, was unsere Studierenden heute an Wissen und fachlichen Fähigkeiten erwerben müssen, um in der Arbeitswelt von morgen und übermorgen erfolgreich sein zu können. Die genannten menschlichen Kernkompetenzen, aber auch ein Verständnis für grundlegende Zusammenhänge von Natur, Gesellschaft und Technologie müssen einen höheren Stellenwert in unseren Bildungskonzepten bekommen. Dafür tritt der kleinteilige Wissenserwerb in den Hintergrund. Wenn es uns gelingt, Schüler*innen und Studierende in die Lage zu versetzen, ihre Welt in Zukunft aktiv mitzugestalten, sind wir als Bildungseinrichtung unserer Aufgabe gerecht geworden.

2017 haben Sie gemeinsam mit Thomas Bachem und Jonathan Rüth die CODE University of Applied Sciences in Berlin gegründet. Mit dem Anspruch, dass „Uni auch anders ablaufen kann“. Was macht die CODE anders als andere Hochschulen?

Wir an der CODE machen unsere Studierenden und ihre Lernerfahrungen konsequent zum Mittelpunkt unseres Lernkonzepts. Dazu bieten wir eine Lernumgebung, in der sie ihrer Neugier folgen, sich den Herausforderungen echter Projekte stellen, und aktiv und selbstbestimmt lernen können. Die Rolle der Professorinnen und Professoren besteht in erster Linie darin, die Studierenden in ihrer individuellen Lernerfahrung möglichst gut zu unterstützen. Dabei kommen auch klassische Formen der Wissensvermittlung zum Einsatz, allerdings erst, wenn die Studierenden durch ihre Projekterfahrung ein Verständnis dafür mitbringen, warum dieses Wissen für sie relevant sein könnte und wie sie es praktisch anwenden können.

Das Konzept der CODE ist „Praxisnähe“. Praxisnah studiert man auch an Fachhochschulen. Was unterscheidet die CODE konkret von herkömmlichen Fachhochschulen?

Anstelle eines vordefinierten, von Experten entwickelten Curriculums – wie an Fachhochschulen üblich – gestalten unsere Studierenden ihr Studium selbst. Sie lernen überwiegend in Praxisprojekten und arbeiten dabei in interdisziplinären und internationalen Teams. Das erlaubt uns, die Vermittlung und den Ausbau ihrer Kernkompetenzen, also Kreativität, kritisches Denken, kommunikative Kompetenz etc. in den Vordergrund zu stellen.

Die CODE University ist eine private Hochschule. In Deutschland und Österreich hat die Zahl der Privatunis in den vergangenen Jahren stark zugenommen und sie erfreuen sich bei Studierenden großer Beliebtheit. Woran liegt das?

Dafür gibt es viele Gründe, die zum Teil auf der Seite der staatlichen, zum Teil auf der Seite der privaten Hochschulen zu finden sind. Sie sind meines Erachtens deshalb so beliebt, weil private Hochschulen ihre Studierenden als Kund*innen begreifen und diese kundenzentrierte Haltung im besten Fall zu höherer Qualität und besserer Betreuung im Studium führt. An staatlichen Hochschulen steht die Lehre oftmals weniger im Mittelpunkt. Dort werden eher Forschungsoutput und Drittmittel als Erfolgsfaktoren herangezogen.

Lässt sich das Konzept der CODE University, die ja eine technische Hochschule ist, auch auf andere, nicht-technische Studienrichtungen anwenden?

Ja, der grundlegende Ansatz einer Lernumgebung, die den Studierenden die Gestaltung ihres eigenen Studiums erlaubt und ihnen ermöglicht, selbstbestimmt und interessengeleitet zu lernen, kann auf alle Studienrichtungen übertragen werden. Er erfordert allerdings eine radikale Neudefinition der Rolle der Professorinnen und Professoren sowie eine neue Form der Curriculumsentwicklung und der Prüfung.


Zukunftsgespräche "Veränderung: Bildung neu denken!“

16.05.2019, 18.00 Uhr, Festsaal, FH Campus Wien