22. November 2019
Es gibt nicht das eine Schlüsselinstrument, nur das Zusammenspiel aller Akteur*innen und mehrerer Disziplinen bei der Stadt- und Wohnbauplanung hilft auf lange Sicht gesehen, die Herausforderungen wachsender Städte zu bewältigen, zeigt das Aufeinandertreffen von Wissenschaft und Praxis bei der INUAS Konferenz.
Bei der INUAS Konferenz „Wohnen unter Druck. Dynamiken zwischen Zentren und Peripherien“ diskutierten vom 4. bis 6. November Expert*innen aus mehr als 20 Ländern über sozial- und klimaverträgliches Wohnen in rapid wachsenden Städten. Rund 110 internationale Beiträge, Exkursionen und Posters von Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis zeigten, wie wichtig dabei Betrachtung aus interdisziplinären Blickwinkeln ist.
„Obwohl ähnliche Marktmechanismen in Städten auf der ganzen Welt wirksam sind und es Maßnahmen braucht, den Wohnungsmarkt zu regulieren, sind diese an regionalen und nationalen Kontexten ausgerichtet“, so Christoph Stoik, Sozialraumexperte der FH Campus Wien und Mitglied im wissenschaftlichen Komitee der INUAS Konferenz. Marc Diebäcker, Experte für Wohnforschung und Soziale Arbeit an der FH Campus Wien und ebenfalls Komiteemitglied, ergänzt: „Für Österreich stellt sich etwa die Frage, wie soziale und ökologische Aspekte über Bauordnungen, Flächenwidmungen, Wohnbauförderungen oder das Mietrecht festgeschrieben werden können, um leistbares Wohnen in klimaneutralen Stadtteilen zu entwickeln.“
Einigkeit herrschte, dass das „Recht auf Wohnen“ als fundamentaler Baustein zu sehen ist. Keynotespeakerin Loretta Lees, Professorin der University of Leicester, macht die wirtschaftliche Umstrukturierung in vielen Großstädten und die Finanzialisierung des Immobilienmarktes für den Abbau von Wohnrechten und die Vertreibung von Bevölkerungsgruppen als Triebfeder für Gentrifizierung verantwortlich. „Wenn wir heute von Gentrifizierung sprechen, ist sie nicht nur auf der Ebene der Nachbarschaft zu finden, sondern entfaltet sich als globaler Prozess, auch in vielen Metropolen des Südens“, meint Loretta Lees. „Die Erneuerung und Aufwertung der Städte in südlichen Metropolen produziert soziale und urbane Apartheid. Die Erneuerung von nördlichen Städten muss in Verbindung zu staatlich gesteuerter Gentrifizierung gesehen werden, wo beispielsweise durch soziale Durchmischungsprojekte Einwohner*innen in die Peripherie verdrängt werden.“ Für eine integrative Stadtentwicklung seien drei Schlüsselfaktoren zu berücksichtigen: Leistbarkeit, Zugänglichkeit und Diversität.
„Wohnen für alle“ thematisierte Amita Bhide, Professorin am Tata Institute of Social Sciences (TISS) Mumbai, in ihrem Vortrag über die Wohnsituation in Indien und stellt dabei die Definition von leistbarem Wohnen zur Diskussion. „Der Wohnungsmarkt definiert die Erschwinglichkeit weitgehend für mittlere Einkommensgruppen, das läuft an den meisten Armen vorbei und kreiert somit Schwachstellen und sozialen Ausschluss.“ Staatlich geplante und monofunktionale Wohnviertel scheitern vielfach, weil diese an den Lebensrealitäten der Menschen und ihrer selbstorganisierten Nutzungen vorbeigingen.
Zielkonflikte bei der Planung von sozialer Gerechtigkeit, Wirtschaft und Umwelt ortet Keynotespeaker Sascha Roesler, Professor für Architektur in Mendrisio. Großflächige Ansätze wie Umweltfaktoren und Gebäudestruktur beeinflussen das Klima einer Stadt genauso wie beispielsweise das Energieverhalten der Bewohner*innen. Der stetig wachsende Verbrauch veranlasse zur massiven Besorgnis im Hinblick auf den Klimawandel. Am Beispiel Chinas erläutert Roesler, „dass die Geschwindigkeit des Wachstums weltweit auch Ressourcen und unsere Architekturen betreffen. Alleine in China werden 30 Prozent des Energieverbrauchs durch die Bautätigkeit erzeugt.“ Und weiter: „Wir müssen aus den Strategien der Vergangenheit lernen und diese in eine neue Sprache – sowohl die Gebäudearchitektur als auch die Nutzungspraktiken der Bewohner*innen betreffend – übersetzen.“
„Spanien hat sich in den letzten 50 Jahren von einem Land mit hauptsächlichem Vermietungsanteil in ein Eigenheimland verwandelt“, schildert Javier Burón Cuadrado, Wohnbaustadtrat von Barcelona. „Hier muss jetzt gegengesteuert werden.“ Die Politik der katalanischen Hauptstadt setzt dabei auf Anti-Gentrifizierungsmaßnahmen im Tourismus- und Wohnungsmarkt und auf bewussten Markteingriff. Beispielsweise müssen 30 Prozent der Neubauten auch in den innerstädtischen bestehenden Gebieten der Stadt als bezahlbarer Wohnraum deklariert werden. „Wir laden offen Gruppen zur Diskussion und Überprüfung des Wohnungsplans ein und verfolgen einen transparenten und demokratischen Ansatz“, fasst Burón Cuadrado Barcelonas Wohnbaupolitik zusammen.
In einer abschließenden Diskussion zur Realisierung des Rechts auf Wohnen betonten sowohl Javier Burón Cuadrado als auch Amita Bhide, dass je nach Struktur des Wohnungsmarktes ein Mix von Instrumenten und Strategien notwendig ist, um Bodenpreise zu kontrollieren und leistbare Mieten zu ermöglichen. Ein offener Dialog zwischen verschiedenen Akteur*innen wie Planer*innen, Bewohnerinitiativen und Wohnbauträgern sowie ein starkes Bekenntnis zum Recht auf Wohnen durch die Stadtpolitik sind entscheidend, um die Weichen für die Zukunft demokratisch stellen zu können.
Welche Instrumente leistbares Wohnen für alle ermöglichen können, konkret am Beispiel Wien, stand auch beim Abendevent in Kooperation mit der Internationalen Bauausstellung – der IBA_Wien zur Diskussion. Wien gilt international als Musterbeispiel dafür, wie mittels Wohnungsbestands in kommunalem Eigentum und öffentlich gefördertem Wohnbau Einfluss auf Wohnungsmärkte genommen werden kann. Durch die eigene Flächenwidmungsgarantie „förderbarer Wohnbau“ versucht Wien auch aktiv in die Bodenpolitik Einfluss zu nehmen. Kontrovers wurde die Diskussion in Bezug darauf, ob auch ausreichend leistbarer Wohnraum geschaffen wird, angesichts dessen, dass der geförderte Wohnbau eher Mittelschichten anspricht und der Zugang für unterschiedliche besonders benachteiligte Gruppen nur eingeschränkt vorhanden ist.
Aus den rund 20 Postern wählten die Jury und das Publikum zwei Projekte aus, die bei der Poster Award Ceremony geehrt wurden. Den Jury-Preis ging an Michelle Xiaohong Ling von der South China University of Technology für das Poster zum Projekt „Micro-renewal of Qinghu Village of Shenzhen, China“. Dabei geht es um „sanfte“ alternative Lösungsansätze für Urban Villages zur Verbesserung der Lebensqualität in Qinghu Village, wo rasantes Stadtwachstum und traditionelle Kultur aufeinandertreffen und nachhaltige Modelle für Stadterneuerung in China dargestellt wurden. Das Publikum wählte das Projekt der Masterstudierenden Sozialraumorientierte und Klinische Soziale Arbeit von der FH Campus Wien, Fabian Mayrhofer und Johann Gorbach, „Nachverdichtung in Wien und sozialraumorientierte Soziale Arbeit“ auf den ersten Platz.
Die INUAS-Hochschulen FH Campus Wien, Hochschule München (HM) und ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zählen zu den größten Anbieterinnen von anwendungsorientierter Lehre und Forschung in ihren Ländern. Das Netzwerk übernimmt für Themenschwerpunkte rund um urbane und regionale Lebensqualität gesellschaftliche Verantwortung und versteht sich als strategischer Partner für jene Metropolregionen. Die Konferenz-Reihe „Urbane Transformationen“ widmete sich in Wien primär dem Thema „Wohnen“, in München wird sich 2020 alles um „Ressourcen“ drehen, gefolgt von der Konzentration auf „Öffentliche Räume“ 2021 in Zürich.
www.inuas.org