27. März 2017

Nachbarschaft: dörfliche Romantik oder Governancestrategie?

 

„Nachbarschaft - zwischen lokaler Identität und sozialer Kontrolle“ war Thema bei den Campus Lectures der Sozialraumorientierten und Klinischen Sozialen Arbeit. Studierende und ExpertInnen machten klar, dass es die Nachbarschaft gar nicht gibt.

Die Nachbarschaft im Gemeinde- und sozialen Wohnbau war Ausgangspunkt studentischer Forschungsarbeiten - die Ergebnisse präsentierten Barbara Eibelhuber, Absolventin des Masterstudiums Sozialraumorientierte und Klinische Soziale Arbeit und Bachelor-Studierende der Sozialen Arbeit bei den Campus Lectures. Dass noch viele Fragen offen sind, machte die anschließende Dislussion mit ExpertInnen aus der Praxis der Stadtteilarbeit deutlich: Iris Heinrich vom Nachbarschaftszentrum 2 des Wiener Hilfswerk, Johannes Kellner vom Verein Lokale Agenda 21 Wien, Katharina Kirsch-Soriano von der Stadtteilarbeit der Caritas Wien, Andreas Rechling von wohnpartner des Wohnservice Wiens und Christoph Reinprecht vom Institut für Soziologie der Universität Wien.

„Die fachliche Auseinandersetzung zeigt, dass es wichtig ist, sich von romantischen und normativen Vorstellungen zu lösen. Tatsache ist, dass Menschen in der Nachbarschaft unterschiedliche Bedürfnisse haben. Die Kunst der Gemeinwesenarbeit besteht darin, dass Angebote zur Kollektivierung so gestaltet sind, dass Vielfalt unterstützt und städtische Anonymität möglich bleibt“, so Christoph Stoik Sozialraumexperte und Lehrender an der FH Campus Wien.

Die Nachbarschaft gibt es nicht
„Nachbarschaft“ wird in der Praxis der Gemeinwesenarbeit sehr unterschiedlich verstanden. Sie steht für freiwillige stadtteilbezogene soziale Unterstützungsnetzwerke, aber auch für die Notwendigkeit, auf engem Raum nebeneinander zu leben. In den Bezirken ist sie Ausgangspunkt für partizipative Aktivitäten, im Wohnungsneubau für Kommunikationskultur, die gebildet wird. “Nachbarschaft“ wird auch genutzt, um die Gesundheit durch soziale Beziehungen zu fördern oder um Solidarität und politischen Engagement zu entwickeln.

Nachbarschaft hat Konjunktur
Nachbarschaft im Stockwerk, im Wohnhaus, auf einer Stiege, in der Wohnhausanlage oder im Grätzel? Neben den räumlichen Dimensionen bestimmen Lebenslage und Alter die jeweilige Bedeutung – mit kleinen Kindern oder im Alter wird sie meist wichtiger. Bei manchen ist die Nachbarschaft mit einer Sehnsucht nach sozialen Beziehungen und Leben wie einst im Dorf verbunden, andere sehen die Anonymität als Qualität. Diesen individuellen Vorstellungen steht die Nachbarschaft als politisches Governance-Programm gegenüber, das auf die neoliberale gesellschaftliche Fragmentierung und Unwirtlichkeit der Städte reagieren soll. Das erklärt auch, warum die „Nachbarschaft“ in den letzten zwanzig Jahren Konjunktur hat. An die Nachbarschaft werden Erwartungen gestellt, gesellschaftliche Probleme zu lösen, die sie aber nur sehr begrenzt erfüllen kann.

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